Geboren wurde Dalvin 1917 in Galway, an der irischen Westküste, wo er als Sohn liebender Eltern in gut behüteter Umgebung aufwuchs. Als er neun Jahre alt war, wurde seine Schwester geboren, mit der er zu jeder Zeit durch dick und dünn ging. Zwei Jahre später lernte er eine Wölfin kennen, die von nun an sein Schatten sein würde, sein Licht, in jeder noch so dunklen Stunde. Und damit beginnt Dalvins Geschichte.
Kennenlernen Jadiya . 1928
Er stand ganz plötzlich da. Mir war furchtbar kalt, trotz des dicken Felles, trotz der Gewohnheit. Mein ganzer Körper zitterte, geschwächt vom Blutverlust, ermüdet vom Kampf gegen den Tod. Der Blutgeruch hing in meiner Nase, und mit jedem Moment schien mehr Leben aus meinen Gliedern zu versiegen. Mein Rudel war tot, zumindest glaube ich das bis heute. Wir hatten nicht so schnell reagieren können, wie die Menschen dagewesen waren. Sie hatten ihre Waffen auf uns gerichtet, manch einem bei lebendigem Leib das Fell abgezogen. Bis heute frage ich mich, wie ich dieser Hölle entkommen bin, wieso ich fliehen konnte. Ich schleppte mich fort, lahm auf einem Vorderlauf, stechender Schmerz in den Pfoten. Ich muss ausgesehen haben wie tot, der Pelz verklebt, abgemagert. Aber dann stand dieser Junge vor mir, blickte mich aus grauen Augen an. Ich werde diesen Moment nie vergessen, wie er langsam auf mich zukam, zögernd die Hand ausstreckte. Ich war zu erschrocken, zu schwach, um wirklich reagieren zu können. Er berührte mich, und ich ließ es zu. Er sprach mit mir, aber seine Stimme donnerte nur in meinem Kopf wieder. Ich selbst war wie versteinert, als Dalvin sich vor mir in den Schnee sinken ließ, den Blick nicht von mir abwandte. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ auch ich mich in den Schnee sinken, konnte dem Jungen jedoch nicht die Aufmerksamkeit schenken, die er mir zukommen ließ. Es dauerte nicht lang, bis meine Augen vor Erschöpfung zufielen. Aber Dalvin blieb bei mir, rutschte an mich heran, fuhr mit den Fingern immer wieder durch mein Fell. Ich bin ihm so dankbar für alles, was dann folgte. Ich weiß nicht, wie lange wir dort im roten Schnee saßen, ich weiß nicht einmal mehr, wie ich in die Hütte gekommen bin, in der er zu dieser Zeit mit seiner Familie lebte. Aber er tat alles für mich, pflegte meine Wunden, versorgte mich mit allem, was ich brauchte. Er rettete mir das Leben, und dafür stehe ich ewig in seiner Schuld. Er gab mir damals den Namen Jadiya, als wir ein Bündnis eingingen. Ich habe mir eigentlich nicht viel aus Namen gemacht – immerhin war ich ein wild lebendes Tier - aber er bestand darauf, mich so zu nennen. Und ich konnte ihm schon damals keinen Gefallen abschlagen.
Kennenlernen Shailé . 1934
Ich hatte mittlerweile siebzehn Jahre meines Lebens hinter mich gebracht, hatte das ein oder andere Mädchen kennen gelernt – Freundinnen waren gekommen und gegangen - und wollte mich doch hauptsächlich darauf konzentrieren, studieren zu können. Ich hatte einen festen Traum, etwas, was ich um jeden Preis erreichen wollte. Jadiya unterstützte mich, gab mir Mut, wenn ich am Boden war. Mein Freundeskreis beschränkte sich auf einige wenige Menschen, die es aushalten konnten, dass ich andauernd mit Büchern herum rannte, manchmal einfach keine Zeit hatte, um mich um derlei Dinge zu kümmern. Nicht, dass ich nie für sie da war, im Gegenteil. Wenn sie ein Problem hatten, konnten sie immer zu mir kommen. Aber die meiste Zeit verbrachte ich doch damit, mich um meinen beruflichen Werdegang zu kümmern. Nur manchmal ließ ich mich überreden, so auch an diesem einen Abend. Meine Freundin, die zu der Zeit an mir – verzeiht mir meine Redensart, aber es lässt sich nicht anders beschreiben – klebte, zwang mich förmlich dazu, die Arbeit ruhen zu lassen, redete Stunden auf mich ein, bis ich nachgab. Wir begaben uns also in einen der vielen irischen Pubs, zur späten Stunde natürlich schon gut gefüllt. Aber dafür, dass ich an diesem Abend eigentlich hatte zu Hause bleiben wollen, erinnere ich mich heute noch verdammt gut an diesen Tag. Und dich werde ihn auch niemals vergessen.
Ich saß für einige Momente allein an einem Tisch, meine Freundin besorgte etwas zu trinken, der Rest meiner Freunde war irgendwo und feierte. Mir war nicht nach feiern. Ich beobachtete lieber die Menschen, die an mir vorbei wankten, die vielen munteren Gesichter, die Betrunkenen. Ein älterer Mann, der irgendwie nicht in das Bild dieser vielen jungen Menschen passte, ein schwarzhaariges, junges Mädchen, das lachend einen Jungen hinter sich herzog, ihre Lippen auf seine drückte und dann weiter wankte, während er nicht sonderlich begeistert aussah. Eine junge Dame, die an mir vorbei tanzte, irgendwelche nuschelnden Geräusche von sich gab. Und ein weiteres Pärchen, das sich zu der irischen Musik durch den Pub schlängelte. Die Zeit verging, und meine Begleitung kam nicht zurück, sodass ich irgendwann einfach ein Buch heraus holte, die Musik ignorierte und zu lesen begann. Damals wünschte ich mir, ich wäre zu Hause geblieben. Und vielleicht wäre es wirklich besser gewesen. Und doch schien es, als hätte es genau so laufen sollen.
Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, als jemand mit einem leisen Klirren ein volles Glas vor mir auf den Tisch stellte, zur anderen Seite vom Tisch trat und mich mit einem breiten – angetrunkenen – Lächeln anblickte. Ich blinzelte nur, betrachtete ein wenig skeptisch das junge Mädchen mit den schwarzen Haaren, die einige Zeit zuvor an mir vorbei gewankt war. Und erst in diesem Moment, wo sie direkt vor mir saß, mich anblickte, als wüßte sie etwas, was mir verborgen blieb, erkannte ich die Aura, die sie umgab. Ich hatte bis dahin nicht viele Katori kennen gelernt, aber dieses Mädchen war unverkennbar eine. Sie roch nach Alkohol... und nach Frühling. „Vergiss sie. Sie ist es nicht wert.“ Verwundert über diese Worte blickte ich vollends von meinem Buch auf, blickte die Fremde an. Ich suchte kurz nach dem Jungen, der vorhin noch bei ihr gewesen war, aber von ihm war nichts zu sehen. Ich blickte also wieder die Fremde an, konnte mir nicht ganz erklären, was sie mir damit sagen wollte. Aber noch bevor ich irgendwie reagieren konnte, war sie schon wieder aufgesprungen, trat zu mir und klopfte mir kurz auf die Schulter. „Wirklich. Vergiss sie.“ Wider öffnete ich den Mund, um ein wenig mehr Infos zu bekommen... aber wieder unterbrach sie mich. „Ich bin übrigens Shailé. Shaile Eyree. Du solltest auf mich hören.“ Und mit diesen Worten verschwand sie wieder, hinterließ nur das Glas mit Whiskey und einen blumigen Geruch. Jedem, der damals behauptet hätte, diese Frau würde mein Leben auf den Kopf stellen... ich hätte ihn für verrückt erklärt.
Kennenlernen Eule/Zusammenkommen . 1934
Ich erinnere mich noch gut daran, wie Dalvin sich verhalten hat, nachdem er diese Shailé kennen gelernt hatte. Wir sind ihr noch oft begegnet, und die beiden haben immer mehr Zeit miteinander verbracht, ohne dass wir den Partner der Frau zu sehen bekommen haben. Es war merkwürdig... Er sprach nicht einmal mit uns. Und immer, wenn man Shailé darauf ansprach, lachte sie nur und gab die selbe Antwort. Jedes Mal. „Er zeigt sich euch, wenn er euch für würdig hält.“ Bis zu diesem Tag, als ich vor lief, sie allein vor uns sah und sie auf Dalvin aufmerksam machen wollte. Ich lief also zu ihr, nahm ihre Hand im Schein einer der letzten Laterne sachte zwischen die Fänge. Es war recht schwierig, da sie nicht ruhig lief, sondern die Arme tanzend durch die Luft federn ließ. Aber sie hielt inne, wandte sich zu mir, erkannte Dalvin und lächelte uns beiden entgegen. Was dann folgte, war ein lauter Schrei, und im nächsten Moment fand ich mich in einem Gewirr aus hellen Federn wieder, Krallen, die nach meiner Nase griffen und ein Schnabel, der versuchte, mich mit aller Kraft von der Frau weg zu bekommen. Shailé selbst schien verwirrt, wußte nicht so Recht, was geschah, als auch Dalvin außer Atem bei uns ankam. Aber anstatt mir zu helfen, ließen sie die Eule einfach machen, standen nur da und lachten. In diesem Moment verfluchte ich Dalvin und wünschte ihm dieses wild gewordene Federtier an den Hals. Aber er sollte seine Rache noch bekommen – das ahnte ich damals nur noch nicht. Irgendwann erbarmte sich Shailé, nachdem keine Flucht mich retten konnte, und hielt mir dieses Tier vom Leibe. Erst jetzt konnte ich den Angreifer genau erkennen, der mit einigen Flügelschlägen auf der Schulter der Frau landete. Ich selbst hatte eine blutige Nase, Federn im Fang und sah wohl allgemein ein wenig zerrupft aus. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft – und das nicht nur zwischen mir und der Eule.
Shailé war an diesem Abend auf dem Weg in einen Pub, in dem sie kellnerte, um ein wenig Geld zu verdienen. Und noch bevor ich selbst darüber nachdenken konnte, hatte sich die Frau bei meinem Partner eingehakt, zog ihn summend mit sich durch die frische Winternacht. Ihre Eule war nun nicht mehr zu sehen, und so folgte ich den beiden, nicht sicher, wohin dieser Abend führen würde. Aber befürchtetes blieb aus, Dalvin betrank sich nicht – es blieb bei ein paar Gläsern. Aber je später der Abend wurde, desto voller wurde der Pub, und ich beschloß, dass ich auch unter Dalvins Hocker nicht mehr sicher war. Den Rest des Abend beobachtete ich die beiden also selbst nicht sichtbar. Aber ich will ehrlich sein. Ich habe Dalvin so glücklich gesehen. Irgendwann hatte er seinen Hocker verlassen, tanzte nun mit Shailé durch die grölende, irische Menge. Ich kannte dieses Verhalten kaum von Dalvin, enthielt mich aber meiner Kommentare, wie gesagt. Ich wollte ihm dieses Glück einfach gönnen. Ich weiß nicht, was an diesem Abend noch geschehen ist, ich bin eingeschlafen, als auch die letzten Menschen ihre Plätze verlassen hatten, um sich dem tanzenden Haufen anzuschließen. Aber ab diesem Moment verbrachten die beiden eigentlich jede freie Minute zusammen.
Shailés Diagnose . 1950
Es hatte alles mit einem kleinen Husten begonnen. Niemand hatte etwas schlimmes befürchtet, als Shailé zu husten begann. Sie hatte nicht einmal große Schmerzen, niemand brach also in Panik aus. Sie lag in dieser Zeit viel, ruhte sich einfach aus und versuchte, gesund zu werden. Aber... nichts schien zu helfen, keinerlei Medikamente schlugen an, und kein Arzt schien eine Lösung zu finden. Aber anstatt, dass es ihr besser ging, verschlimmerte sich ihr Zustand. Einige Ärzte glaubten, sie hätte eine chronische Entzündung, manche verschrieben ihr Medikamente, andere ließen sie mit dieser Diagnose stehen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Ich konnte sie so gut verstehen, als sie zugab, zu keinem Arzt mehr zu wollen. Sie hatte so viele Untersuchungen durchführen lassen, hatte mehr Zeit bei Ärzten verbracht, als zu Hause. Aber es wurde nicht besser, man konnte ihr fast dabei zusehen, wie sie schwächer wurde, wie sie immer mehr zu einem Schatten ihrer selbst wurde. Und Dalvin ließ nicht locker, auch ihm war die Sorge jeden Tag aufs Neue ins Gesicht geschrieben. Er sorgte sich um seine Frau, um meine Partnerin. Er glaubte schon lange nicht mehr an die Ärzte, seine sonst so glückliche Seite war verschwunden. Ich habe ihn nie wieder lächelnd gesehen, alles Glück war aus seinen Augen verschwunden. Manchmal saß er einfach da, völlig abwesend. Auch er wurde mehr und mehr zu einem Schatten, als hätte man ihm den letzten Sinn seines Lebens genommen. Und damals wußte noch niemand, was uns erwartete, was das Leben für uns bereit hielt. Aber ich glaube, Dalvin hat es geahnt, seine Hoffnungslosigkeit sprach für sich. Und als sie zum Arzt aufbrachen, der sie zu sich bestellt hatte, um ihnen zu sagen, was meine Partnerin quälte, waren ihre Gesichter nicht mehr als dunkle Schatten, ohne Glück. Ohne Hoffnung. Jadiya und ich waren bei ihnen, den ganzen Weg. Sie sprachen nicht, Dalvin stützte seine Frau nur ohne zu sprechen. Und Shailé fehlte die Kraft, überhaupt etwas zu sagen. Es stach auch mir ins Herz, sie so zu sehen, zerrissen, am Ende mit ihren Kräften. Aber die Worte, die der Arzt sprach, rissen diese Wunde nur weiter auf, nahmen uns die letzte Chance auf Heilung. Shailé hatte Krebs, überall in ihrem Körper nagte der sichere Tod an ihr, bereit, sie mit sich zu nehmen, wenn es soweit war. Der Arzt gab ihr noch wenige Wochen, höchstens einige Monate Zeit. Und damit hat er uns nicht nur für einen Moment den Atem genommen.
Ich erinnere mich noch an den Weg zurück, den Weg, den wir so oft gegangen waren, und der uns dennoch nie so unendlich lang vor gekommen war. Shailé weinte, kämpfte um jeden Atemzug. Aber Dalvin blieb nicht stehen, wandte sich nicht um. Shailé war es, die sterben würde. Aber in Dalvin war schon jetzt ein Stück seiner Seele zerbrochen, unwiderruflich zerstört. Erst, als seine Frau vollkommen entkräftet auf den Boden sank, nicht mehr weiter konnte, geschwächt durch all ihr Leid, hielt er inne, wandte sich zu ihr herum und ließ sich neben sie sinken. Es herrschte Schweigen, eine erdrückende Stille. Aber die Tränen, die über Dalvins Wangen rannen, als er die Arme um Shailé legte, sie an sich drückte, sprachen mehr, als jedes Wort hätte ausdrücken können.
Ich werde diesen Tag niemals vergessen, den Schmerz, der uns zu Boden schlug und uns zerriss. Das Leid in Shailés Augen, die Hoffnungslosigkeit, die mir das Herz förmlich heraus riß. Wir haben beide nicht geschlafen, aber während sie wach lag, allein mit ihrem Leid kämpfen musste, versuchte ich, all das Leid in Alkohol zu ertränken. Nur um irgendwie zu verkraften, dass sie sterben würde. Aber es half nichts, der Alkohol verschlimmerte die Pein nur, bis ich irgendwann in mir zusammen sackte, den Kopf nicht mehr aufrecht halten konnte. Ich war nie betrunkener, habe nie mehr geweint. Und... eigentlich kann ich nur froh sein, dass ich diese Nacht überlebt habe. Die Grenzen des möglichen waren überschritten, und meine Gedanken konnten nur noch um den Tod kreisen, als einzigen Ausweg für mich. Aber so sehr ich mir Erlösung wünschte... ich konnte sie nicht allein lassen. Ich wollte bei ihr sein, den letzten Weg mit ihr gehen und sie loslassen, wenn die Welt uns auseinander riß. Und dennoch war ich nicht so für sie da, wie ich es gewollt hatte. Ich kapselte mich ab, hin und her gerissen. Ich wollte sie in jedem Moment im Arm halten, die letzte Zeit mit ihr genießen. Aber gleichzeitig ertrug ich ihren Anblick nicht, spürte jedes Mal, wie ein Teil von mir starb, wenn sie mich anlächelte, müde und erschöpft. Ich habe nie einen Menschen mehr bewundert, als sie. Im Angesicht des Todes, der jeden Tag seine kalten Hände nach ihr ausstrecken konnte, und dennoch solch ein wundervolles Lächeln, voller Wärme und Liebe, auf den Lippen. Aber ich konnte es nicht erwidern, ich konnte einfach nicht. Mein Glück, meine Wärme... all das hatte man mir in dem Moment genommen, als man uns sagte, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Die Würfel waren gefallen, alle Karten ausgespielt. Und mir blieb nichts anders, als zu verlieren.
Shailés Tod . 1950
Die Wochen vergingen wie im Flug, und ich schien jeden Kampf zu verlieren. Meine Wege wurde kürzer, die Luft in meinen Lunger knapper. Nur mein Herz schlug noch, versuchte den Krebs zu besiegen, dem Tod zu entkommen, der still verharrte, auf meinen letzten Atemzug wartete. Die letzten Tage meines Lebens hatte ich zu Hause verbracht, ich wollte in vertrauter Umgebung sein, wenn es zu Ende ging. Nicht im Krankenhaus, nicht bei fremden Menschen, Nur bei Dalvin. Und er war da, als mein letzter Morgen gekommen war. Er hatte Zeit gebraucht, Zeit um zu verstehen, dass ich nicht bei ihm bleiben konnte. Aber... an meinen letzten Tagen wich er kaum von meiner Seite, verbrachte Stunde um Stunde bei mir. Er konnte mir dir nicht die Wärme geben, die ich so an ihm liebte... aber er war da, hielt mich im Arm, ließ mich auf diesem Weg nicht allein. Auch Eule und Jadiya waren immer da, aber auch ihnen sah man das Leid an, dass etwas was ihnen starb.
Ich wußte nicht, wann es Nacht war, wann die Sonne am höchsten stand. Ich sah nichts, außer meinem Totenbett. Und dann war der Tag gekommen, den wir alle gefürchtet hatten. Alle Kräfte hatten mich verlassen, ich konnte kaum atmen, mich nicht bewegen. Und auch mein Herz schien aufzugeben, es schlug immer langsamer, womit eine kalte Ruhe mich beschlich. Ich spürte Dalvin neben mir, seine Arme, die er um mich gelegt hatte, um mich fest zu halten. Aber es war zu spät. Der Tod streckte seine Hände nach mir, war gekommen, um mich aus den Armes meines Mannes zu entreißen. Ich wußte nicht, ob ich Angst hatte, oder ob ich einfach der Erlösung meines Leidens entgegen blicken sollte. Für mich war es vorbei, aber was würde aus ihm werden? Was würde er tun, wenn er ab jetzt jeden Weg allein gehen musste? Ich konnte sehen, wie er meinem Partner über die Federn strich, wie Eule an seinem Finger knabberte. Und Jadiyas traurige Augen zerrissen auch den letzten Glauben in mir. Dalvin wandte sich zu mir, aus seinen Augen war die letzte Wärme gewichen. Er sah müde aus, ohne Freude. Er lehnte sich zu mir, berührte meine Lippen mit seinen, ganz sanft, als könne er mir weh tun. Tränen rannen über seine Wangen, ließen mein langsamer schlagendes Herz verzweifelt klingen. Ich wollte nicht gehen, wollte ihn nicht allein lassen. Aber meine Glieder wurden taub, ich konnte kaum die Augen offen halten. „Dalvin... ich bin... so müde...“ Ich hatte die Augen geschlossen, konnte kaum glauben, dass dies meine Stimme gewesen war. So leise, nicht mehr als ein Hauchen. Und trotzdem spürte ich seine sanfte Hand, die über meine Wange strich, und seine Stimme war nicht mehr als ein dumpfes Rauschen. „Schlaf nur... ich werde da sein, wenn du aufwachst. Ich warte auf dich.“ Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande, brachte jedoch nicht die Kraft auf, ihn anzusehen. Aber er war da, ich konnte ihn nah bei mir spüren. Auch als die letzten Schläge meines Herzens alles übertönten, mit meinen letzten Atemzügen wußte ich, dass er bei mir war, und erst im letzten Moment meine Hand loslassen würde. Ich hörte ihn Flüstern, konnte mich an seine letzten Worte klammern, und sie mit mir in die Ewigkeit nehmen. Und mit meinem letzten Atemzug wich jedes Leben aus mir, ich verließ diese Welt, und alles, was ich zurück ließ, war ein gebrochener Mann, dem ich alles Glück auf der Welt gewünscht hätte. Aber ich konnte ihm diesen Traum nicht mehr erfüllen.
Ruhelose Reise/Ankunft in Hanya . 1951 - Heute
Ich war nicht mehr ich selbst. In der Sekunde, als ich Shailés schwächer werdenden Körper an mich drückte, zerbrach auch mein Herz, mein Leben zersprang in tausend Scherben. Ich wußte nicht, was ich nun mit meinem Leben anfangen sollte, wie ich überhaupt aufstehen sollte. Jeder schwache Atemzug schien unnötig, als wäre es falsch, dass sie gehen musste... und ich zurück blieb. Mir war nichts geblieben, kein Lebenswille, kein Mut, weiterzumachen. Einzig meine Schwester und Jadiya blieben mir, und dennoch erdrückte mich die Einsamkeit. Ich hatte keinen Freund an meiner Seite, und die letzten beiden, die bei mir geblieben waren... ich war zu blind, um sie zu sehen. Jeder Tag war der Selbe, es lief alles gleich ab – trist und grau. Ich weiß nicht, wie ich diese Zeit überstanden habe, wie ich überhaupt hatte leben können. Aber ohne meine Schwester und meine Partnerin... ich hätte längst all mein Leiden beendet, wäre Shailé gefolgt, um endlich wieder bei ihr sein zu können. Aber je länger ich in Irland blieb, desto mehr zog sich eine Schlinge um meinen Hals, gestrickt aus Erinnerungen, an die ich mich klammerte. Und es folgte, was sich nicht verhindern ließ, ich musste verschwinden, Irland verlassen. Ansonsten hätten mich die Erinnerungen erdrückt, ich wäre daran zu Grunde gegangen. Ich hatte es zwei Jahre ausgehalten, hatte mich in meiner Arbeit versteckt, aber jetzt war es vorbei. Ich wollte nur weg, fort von diesem Ort, an den mich all diese Erinnerungen banden. Ich traf meine Entscheidung, als die Welt schon von Dunkelheit umhüllt war, als alles schlief. Ich legte Georgie einen Brief zurecht, verließ an Jadiyas Seite das Land, meine geliebte Heimat. Ich wußte, dass ich eine lange Zeit nicht hierher zurück kehren würde, aber ich blickte nicht zurück. Ich wollte neu beginnen. Ich zog hinaus in die Welt, ohne Ziel, ohne einen Ort, den ich zu Hause nennen konnte. Überall wartete nur Einsamkeit auf mich, freudloses Leben. Aber ich konnte mich ablenken, musste nicht in jedem Moment an das denken, was ich hinter mir gelassen hatte. Ich bereiste so viele Länder... war über ein Jahr heimatlos, ruhelos. Bis ich zu dem Ort gelangte, den ich einmal mit Shailé besucht hatte, zu dem Haus, welches wir damals gemeinsam besichtigt hatten. Hanya. Und ohne weiteres Zögern hatte ich meine Entscheidung getroffen. Mein Herz würde immer in Irland bleiben, ich würde nie meine Wurzeln vergessen. Aber Hanya sollte ab diesem Moment der Ort meiner Zuflucht sein, mein Neustart. Und damit begann ein neues Kapitel in meinem Leben, eine neue Welt öffnete sich vor mir. An meiner Seite immer Jadiya, als größte Stütze. Auf der anderen Seite die wunderbare Erinnerung an meine verstorbene Frau, an den wertvollsten Menschen, den ich je getroffen hatte.
Es dauerte nicht lang, bis ich mich einer Gruppe Katori anschloss, durch sie ein wenig die Schuld, die Angst und die Trauer herunter schlucken konnte. Nie ganz, all das begleitete mich wie eine dunkle Wolke, die immer irgendwie anwesend war. Aber Hanya schenkte mir etwas, mit dem vermutlich niemand gerechnet hätte, was meine Welt weniger trist aussehen ließ. Wie sagt man so schön, man trifft sich immer zweimal, so auch in diesem Fall. So auch in Anthonys und meinem Fall. Shailé und ich hatten ihn auf unserer Verlobungsreise kennengelernt, den jungen, rebellischen Katori, der meiner Verlobten und meiner Partnerin das Herz stahl – zusammen mit seiner Partnerin Faith. Shailé schrieb ihm oft Briefe – selbst als irgendwann keine Antworten mehr kamen. Auch eine Einladung zur Hochzeit blieb unbeantwortet – den Grund dafür erfuhr ich erst viele Jahre später. Aber zusammen mit Anthony, der ähnliche Verluste erlitten hatte, wie ich, wirkte das Leben einfacher. Selbst, wenn die Welt unter unseren Füßen bebte, fanden wir ineinander immer Halt, auch wenn wir Mal stürzten, war immer jemand da, der einem wieder auf die Beine half.